Türkei schafft Altersgrenze ab: Erdogans Rentengeschenk
Mehr als zwei Millionen Türken können jederzeit ihre Rente beantragen – wenn sie 7200 Tage gearbeitet haben. Kritiker halten das für ein Wahlkampfmanöver von Präsident Erdogan – und warnen vor den Folgen.
Die Tür der Renten- und Sozialkasse im Istanbuler Stadtteil Unkapani ist geschlossen. Mittagspause. Trotzdem bildet sich auf dem Gehweg eine Schlange.
Ganz vorne wartet Murat. Der 49-jährige Spielwarenverkäufer arbeitet, seit er 13 Jahre alt ist. Er will wissen, ob er jetzt in Rente gehen darf. “Eigentlich ist es mit 49 Jahren noch zu früh”, sagt Murat. “Aber wenn der Staat einem diese Möglichkeit bietet, sollte man sie auch in Anspruch nehmen, nicht wahr?”
Auch Aysegül ist deswegen nach Unkapani gekommen. Sie arbeite seit sie 16 Jahre alt sei, erzählt sie. “Zugegeben: Mit 43 in Rente zu gehen, das ist früh. Aber es ist in diesem Land besonders für arbeitende Mütter unheimlich anstrengend”, sagt die Restaurateurin. “Denn wir arbeiten nicht nur im Job, sondern auch nach Feierabend – im Haushalt und mit den Kindern.” All die Arbeit habe sie sehr müde gemacht.
Renteneintrittsalter abgeschafft
Lange Warteschlangen wie hier werden aus vielen Orten gemeldet, seit Präsident Recep Tayyip Erdogan angekündigt hat, das Renteneintrittsalter abzuschaffen. Das betreffe laut Erdogan gut zwei Millionen Menschen. Bisher konnten Frauen mit 58 Jahren in Rente gehen, Männer mit 60. Ab Mitte Januar zählt nur noch die gearbeitete Zeit: 7200 Tage berechtigen dann zum Renteneintritt.
Hier in der Schlange kommt das gut an, zum Beispiel Fatma. “Ich freue mich, sonst hätte ich noch drei Jahre warten müssen”, sagt die 54-Jährige. “Mein Mann ist in Rente, aber was nützt ein einziges Rentengehalt? Und dennoch: Gott segne Tayyip Erdogan! Ja, alles ist teurer geworden, aber das ist doch nicht seine Schuld.”
Einkommen reicht oft nicht aus
Auf solche Stimmen setzt Erdogan bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Frühjahr. Denn die desolate wirtschaftliche Lage der Türkei wird von vielen – anders als von Fatma – durchaus seiner Regierung angelastet. Die Türkische Lira verfällt, und die Inflation liegt bei mindestens 80 Prozent. Die Rente reicht da oft nicht aus.
Das erlebt auch Firdevs aktuell in ihrer Familie. Ihr Vater sei gerade in Rente gegangen, er bekomme etwa 200 Euro. “Er wohnt zur Miete und kommt nur schwer über die Runden”, erzählt Firdevs. “Ich freue mich für ihn, weil er jetzt die Chance hat, Rente zu bekommen und zusätzlich zu arbeiten. Er wird also mehr Einkommen haben.”
Rente ohne Ruhestand
Rente, aber kein Ruhestand – um den Lebensunterhalt zu bestreiten, ist das ein gängiges Modell. Fatmas Mann arbeitet zusätzlich, und auch Murat denkt darüber nach.
Eine junge Frau, die ihren Namen nicht nennen möchte, steht hier für ihren Onkel an. Sie findet das ungerecht. “Da viele trotz Rente weiterarbeiten, ist das keine wirkliche Rente”, kritisiert sie. “Es ist Betrug. Ich habe gerade mein Studium abgeschlossen und warte auf eine Anstellung.” Aus ihrer Sicht sollten die arbeitenden Rentnerinnen und Rentner den Arbeitsmarkt freimachen.
“Auf Kosten kommender Generationen”
Und es gibt noch ein Problem: Je früher Menschen Rente beziehen, desto früher hören sie auf, in die Versicherung einzuzahlen, und so stehe das System langfristig vor dem Kollaps. “Das geht auf die Kosten kommender Generationen”, sagt der Wissenschaftler und Wirtschaftsexperte Senol Babuscu dem türkischen TV-Sender Karar. “Wie viel Schaden wir den zukünftigen Generationen damit zufügen, wird sich erst noch zeigen.”
Auch die unmittelbaren Kosten für den türkischen Staat sind noch unbekannt. Laut türkischem Arbeitsminister wird es mindestens fünf Milliarden Euro kosten.
Mindestlohn erhöht
Es ist nicht die erste teure Maßnahme: Erdogans Regierung hatte kürzlich den Mindestlohn erhöht, genauso die Gehälter im Öffentlichen Dienst. Der Präsident steht wegen der wirtschaftlichen Lage in den Umfragen unter Druck – und im Frühsommer wird gewählt.
Der Wirtschaftsexperte Babuscu hält die frühe Rente für ein Wahlgeschenk. “Um die Wahlen zu gewinnen, wurden knapp 2,5 Millionen Menschen berechtigt, früher in den Ruhestand zu gehen”, sagt er. “Ob das richtig oder falsch ist, ist eine andere Frage. Sicher ist, es wird die Kassen stark belasten.”
Sofort-Rente als Wahlgeschenk?
In Unkapani ist die Schlange mittlerweile geschätzte 30 Meter lang. Viele der Wartenden sind sich in diesem Punkt einig: Erdogan verfolge mit der frühen Rente ein ganz bestimmtes Ziel. “Die Wahlen stehen bevor. Hat das vielleicht etwas damit zu tun? Klar ist das so”, betont die wartende Aysegül. “Das war seine letzte Karte, die hat er jetzt ausgespielt.”
Ein Mann, der ebenfalls ansteht, stimmt ihr zu. “Das ist doch ein Wahlgeschenk. Er weiß doch, dass seine Tage gezählt sind. Deshalb macht er das”, sagt er. “Meine Erwartung? Na, ihn zu verabschieden. 20 Jahre mit diesem Mann – es reicht!”
Bis jetzt gibt es noch kein geltendes Gesetz zur frühen Rente. Das soll erst Mitte Januar dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt werden. Aber das scheint nach Erdogans Ankündigung nur noch Formsache zu sein.
Türkische Rententräume – Erdogan schafft Renteneintrittsalter ab
Benjamin Weber, ARD Istanbul, 2.1.2023 · 19:37 Uhr